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„Der entwurzelte Flüchtling und der radikale Individualist sind die Hauptfiguren unserer Epoche.(…) Der Eine verlässt seine Heimat und irrt Jahre rechtlos auf der Suche nach neuer Geborgenheit umher; der Andere berechnet seine Heimat und zäunt sie (…) ein. “ (Christian Schüle)
Der Verlust von Heimat spiegelt sich auch in der zunehmend nach Funktionalität und Effizienz gestalteten Landschaft, in den wachsenden Nicht-Orten unserer Umgebung. Nach dem französischen Ethnologen Marc Augé sind Nicht-Orte sinnentleerte, transitorische Funktionsorte. Sie sind Zeichen eines kollektiven Identitätsverlustes, Orte des Ortlosen: „Der Raum der Nicht-Orte schafft Einsamkeit und Gleichförmigkeit“.
Das Unbehagen angesichts solcher Unorte, das Gefühl der Heimatlosigkeit, ist zentrales Anliegen der Arbeiten von Wibke Rahn auf der Schnittstelle zwischen Plastik, Installation und Fotografie.
Rahn baut Räume, Behausungen. Die Arbeiten werden zunächst aus Holz- oder Metallfundstücken zusammengesetzt, danach oft in Stahlbeton, dem Material der modernen Massenarchitektur, abgegossen. Dann gehen die Objekte auf Reisen, in Industrielandschaften, auf Dächer, Flughafenrollfelder, in die Leere des Wattenmeeres. Sie werden zu Nicht-Orten in einer realen Landschaft.
Metall und Beton. Baustoffe der modernen Architektur. Material für die Kunst von Wibke Rahn. Sie spielt mit ihnen und spiegelt dabei einen Aspekt unserer Realität, den wir leicht aus dem Blick verlieren: die Gestaltung der Orte, die uns umgeben. Auch sie schafft in ihrer Kunst Orte, gestaltet dystopische Architekturen, inszeniert in menschenleere Landschaften, Orte ohne Geschichte und Identität. Es sind Nicht-Orte. Egal ob fiktiv oder an reale Orte angelehnt – sie erzeugen ein Gefühl, als seien sie vertraut, möglich, bekannt, zugleich entfremdet und befremdlich, beängstigend nahe an der Realität.
Ihre Kunst kann als Kommentar auf die spätmoderne Raumgestaltung verstanden werden. Sie wird dominiert von Orten des temporären Aufenthalts, Orte, die sich durch Zugangsbeschränkungen und Ausschluss auszeichnen. Es ist das, was der Ethnologe Marc Augé als Nicht-Orte bezeichnet: Klassische Transit-Orte wie Bahnhöfe, Hotels und Flughäfen, aber auch Supermärkte, Orte des Konsums, Räume, die für Freizeitzwecke konzipiert sind, Flüchtlingsheime, Slums, virtuelle Räume. Orte der Anonymität, der Einsamkeit, der Entwurzelung. Sie sind austauschbar, nur für einen Zweck bestimmt und werden nie dauerhaft mit Leben gefüllt. Zugang erhält nur, wer seine Identität mittels Scheckkarte oder Ausweis preisgibt. Innerhalb dieser Nicht-Orte ist die eigene Identität jedoch egal, denn der Mensch wird auf seine Funktion reduziert: Käufer*in, Konsument*in, Passagier*in, Geflüchtete*r. In dieser anonymen Welt stellt sich schnell ein Gefühl der Verlorenheit ein. Es ist die weltweite Zunahme von Nicht-Orten, die Rahn in ihrer Kunst reflektiert. Zentral ist ihr dabei das urmenschliche Bedürfnis nach Schutz, Geborgenheit, einer Heimat. Es ist ein Bedürfnis, das zunimmt, wenn wir uns Orte nicht mehr aneignen können.
Wibke Rahn selbst verließ ihre Heimat an der Ostsee mit ländlichem Umfeld, dem Wattenmeer, vertrauten Gesichtern, und zog nach Leipzig. Damals noch eine Stadt mit viel Leerstand, dem Zerfall ausgesetzt, voller Industriebrachen. Doch gerade deshalb waren es auch Orte mit einer Identität, einer Geschichte, die man ihnen sogar ansah. Mit dem wiederaufkommenden Boom der Messestadt änderte sich jedoch auch ihr Gesicht. Die maroden Häuser wurden abgerissen und Neubauten errichtet, die mehr den Bedürfnissen der neuen Bewohner*innen entsprechen. Ein neuer Flughafen, Einkaufszentren, Supermärkte, Sportanlagen, Hotels, allesamt in modernem Stil. Es sind reine Funktionsorte. Sie haben keinen wirklichen Bezug zur Stadt. Es wird versucht, ihnen eine geschichtliche Kontinuität zuzuweisen. Doch sie sind auch nur aus Beton gegossen und mit Glas versiegelt – steril und glatt.
Ganz und gar nicht glatt hingegen sind die Objekte von Wibke Rahn. Feinste Maserungen und Reliefs lassen das Ausgangsmaterial klar zur Geltung kommen: Karton, morsches Holz, feine Drähte, Metall. Diese sammelt sie größtenteils auf ebenjenen alten Brachen, die langsam, aber sicher weichen. Sie arrangiert diese Materialien zu Architekturen, schafft neue Orte aus altem. Die Objekte entstehen als Reflex auf die sich verändernde Umgebung in ihrer neuen Heimat. Es ist ihre Art, sich die neue Heimat anzueignen, einen Platz zu finden. So fand sie auch das passende Medium für ihre Kunst. Arbeitete sie anfangs noch mehr mit zweidimensionalen Medien, entdeckte sie im Kontext der eben beschriebenen Entwicklung ihre Vorliebe für die Bildhauerei. Es ist eine sehr haptische Arbeit, die mehr als andere den Begriff Kunsthandwerk verdient. Das ist nicht sehr verwunderlich, stammt die Künstlerin doch aus einem Tischlerhaushalt. Von klein auf lehrte sie der Vater die Arbeit mit dem Holz. Auch ihr Atelier gleicht mehr einer Werkstatt: An den Wänden reihen sich Schraubzwingen auf, in den Regalen Werkzeugkoffer, Wannen zum Anrühren des Betons, das Baumaterial ordentlich sortiert in einer anderen Ecke.
Und es ist durchaus nicht falsch, hier von Baumaterial zu sprechen, schafft sie mit ihren Objekten doch eher Architekturen. Dabei betreibt Rahn ein cleveres Spiel mit Material, Form und Symbolik. Aus altem Holz und Metall entstehen in der Werkstatt Miniaturhäuser. Manche wirken fragil, improvisiert. Draht und Metall ergeben löchrige Konstrukte. Morsches Holz wird zu einfachen Behausungen zusammengeschraubt. Der Einfluss der Zeit auf das Material ist deutlich ablesbar. In Beton ausgegossen erhalten diese Grundskelette eine neue Bedeutung. Sie sehen aus wie moderne Wohnblocks unserer Gegenwart. Immer höher stapeln sich die kubischen Formen auf. Es ist ein Spiegel der Herstellungsweisen eben dieser Gebäude, an die sie angelehnt sind. Aus Resten entstehen einfache Behausungen, die Wohnblocks werden aus Beton in Form gegossen. Ebenso finden Karton und Styropor Verwendung in ihrer Arbeit. Diese aus Verpackungen gewonnenen Materialien serieller Produkte sind reines Funktionsmaterial. Sie verpacken Produkte. Etwas weitergedacht sind auch die Gebäude der Nicht-Orte nur Verpackungen für Produkte, Orte, an denen Erlebnisse verkauft werden. Neben dieser inhaltlichen Parallele zwischen Material und Nichtorten findet sich auch eine visuelle. Die feinen Wellen des Verpackungskartons setzen sich im Wellblech fort. Die feinporige Oberfläche des Styropors ähnelt derjenigen des Betons.
Neben der ersten Transformation des alten Baumaterials zu neuen Architekturen findet in manchen der Arbeiten eine zweite Transformation statt. Die Objekte werden in oder als Landschaften inszeniert, fotografiert oder gefilmt. Dies ändert ihre Qualitäten. In scheinbar unberührter Natur, vom Winde verweht, scheinen die Betonkuben auf einmal ein Bild dafür zu sein, was uns in Zukunft erwarten kann: Geisterstädte, verschlungen vom Sand der sich ausbreitenden Wüsten. In die Silhouette der Stadt eingereihte Betongebäude stehen vor Trümmern und altem Metall, als möchten sie sagen: „Auch diese Giganten werden einmal fallen“. Improvisierte einfache Siedlungen, die an Filme wie „Mad Max“ oder „Waterworld“ erinnern – Welten nach dem Kollaps unserer Gesellschaften, wie wir sie heute kennen. Medien, die Werbung, Filme oder Spiele vermitteln uns Bilder dieser Orte, sodass uns ein Gefühl der Vertrautheit beschleicht.
Auch wenn die Orte rein fiktiv sind, stehen ihre Bilder repräsentativ für Stereotype. Nicht ohne Grund regen die Objekte von Wibke Rahn unmittelbar Assoziationen in uns an. Eine Baracke, Unterkünfte von Geflüchteten, Hochhaussiedlungen in den Megacities des globalen Südens. Verfall. Ein dystopischer Ausblick. Es sind Landschaften, die wir überall auf der Welt verorten könnten. Sie haben keine klare Zuordnung zu einer bestimmten Stadt, ihnen fehlt die Identität. Die Installationen wecken Bilder, die wir medial vermittelt bekommen, von Orten, die wir nie gesehen haben und uns dennoch vertraut erscheinen. Dabei sind sie selbst nur durch das digitale Medium entstanden. Rahn referiert hiermit auf die Macht von Bildern, die im digitalen Zeitalter ungehindert zirkulieren. Immer wieder steht die Frage im Raum, ob man den Bildern trauen kann. Sind sie echt oder doch nur Fiktion? Allzu oft nur wird die Fiktion von der Realität eingeholt. So rücken die auf Trümmern stehenden Gebäude von Rahn im Kontext des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine erschreckend nahe an die Realität. Auch die Werke aus der Reihe „Behausung“ von 2012 wurden im Zuge der großen Fluchtbewegungen aus Syrien mit Bildern aus den Camps im Mittelmeerraum als Symbolbilder für Heimatlosigkeit in unseren Köpfen verfestigt.
Dank dieser Bilder schafft es Rahn, auf subtile Art und Weise daran zu erinnern, dass die Räume, die uns umgeben, einen wichtigen Anteil daran haben, wie wir uns begegnen. Sie bestimmen, wer Zugang hat und wem welcher Platz zugewiesen wird. Rahns Werke sensibilisieren den Blick für unsere Umwelt und regen dazu an, genauer zu beobachten, wie die Orte unseres alltäglichen Lebens gestaltet sind. Wo und wann begegnen mir Nicht-Orte? Wie viel Anteil haben sie an meinem Leben? Wie bewege ich mich in ihnen? Wo fühle ich mich geborgen? Im Umkehrschluss ermöglichen diese Reflexionen auch mehr Einfühlungsvermögen für Menschen, denen solche Orte des Schutzes und der Geborgenheit verschlossen bleiben. So gesehen bewegt uns Rahn auch zu mehr Solidarität. Und davon können wir in unserer Welt nie genug haben.
Sven Röder
Quelle: Künstlerportrait im Boesner Kunstportal, 1/2023
zu den Arbeiten von Wibke Rahn
Wir sind im Leben auf der Suche. Immer noch irgendwie auf der Suche nach Nahrung. Nach Liebe, selbst wenn wir sie gefunden haben. Auf der Suche sind wir immer auch nach einem Zuhause, nach Heimat, nach einem Ort, wo wir Essen und Lieben können, in welcher Reihenfolge auch immer.
Das ist das Thema der Künstlerin, Wibke Rahn, aus Leipzig. Wibke Rahn stellt Orte her, oder Orte nach oder Orte vor oder was auch immer. Ich habe gelesen, dass sie ihre Arbeiten aus der Konfrontation mit den wachsenden Nicht-Orten in der Landschaft um Leipzig herum entstanden sind. Laut den französischen Ethnologen Marc Auge sind Nicht-Orte sinnentleerte, transitorische Funktionsorte im Zeichen eines kollektiven Identitätsverlustes.
Ich sehe das und wiederum auch nicht. Wibke Rahn schafft für mich etwas viel Sinnlicheres. Sie kreiert erst einmal Behausungen, mit Fundstücken und Zement, liebevoll. Es sind Rohbauten, irgendwie. Aber wenn man ein wenig gereist ist, so ist das Rohe doch sehr lebendig, in Griechenland, oder der Türkei oder in Ägypten, Tunesien. Das Rohe ist ein Projekt, was für das Leben steht, es ist nicht fertig, es braucht noch Zeit und es hat diese Zeit. Da ist halt gerade kein Geld da, weil Krieg ist oder Krise oder eben wieder beides. Grau ist die vorherrschende Farbigkeit. Grau ist ehrlich. Es gaukelt uns nichts vor. Grau tut nicht fröhlich, zeigt kein übertriebenes Lachen. Grau ist schön, auf den zweiten Blick, farbiger als vermutet und es ist halt nicht schwarz/weiß, es ist differenziert, es ist reich.
Wibke Rahns Behausungen scheinen leer zu sein, aber wir füllen sie, mit dem was da stattfinden könnte, mit den Leben halt, mit dem sich nahrhaft Lieben, oder hungernd sich Sehnen oder dem einfachen Sein, welches nicht alle fünf Minuten danach fragt, ob ich jetzt glücklich oder unglücklich bin – wir füllen diese Behausungen und sie hören für mich auf, Nichtorte zu sein. Sie können gar keine Nichtorte sein, weil Wibke Rahn eine Bildhauerin ist, Gott sei Dank, die ihre Lebenskraft einsetzt, um die Dinge zu tun, da ist Leben drin, und das sieht man am Ende, ob man will oder nicht, und da ist Hoffnung darin.
Dann gehen diese Orte auf Reisen und es entstehen Fotografien. Landschaften mit Häusern. Weite Landschaften, die karg sind, die nichts Blühendes haben, vom Winde verweht sind. Die vielleicht von Einsamkeit künden für Leute, nicht gerne einmal allein sind, die den vollen Strand dem leeren vorziehen, für Leute die sich selbst nicht aushalten. Für alle anderen sind es Orte der Sehnsucht, des sich Besinnens, des Trostes, der Einkehr. Diese Fotografien haben eine archäologische Komponente, diese kündet nicht vom NICHTS, sondern kreiert Fragen nach dem was da war, was da ist, was da sein könnte.
Da wo das Leben abwesender scheint als anderswo ist es am Ende doch sehr präsent, vielleicht sogar deutlicher. Wibke Rahn erzeugt in ihren Arbeiten eine entrückte Stille, die Konzentration ermöglicht, die die Dinge leise sprechen lässt. Ihr Schwingen zwischen den verschiedenen Medien führt zu angereicherten Formulierungen, intelligent und sinnstiftend.
Tauchen sie ein in Wibke Rahns ambivalente Welt, die jenseits des rein Dekorativen essentielle Fragestellungen unserer Zeit bereithält.
Prof. Jens GussekText modifiziert nach der Eröffnungsrede
zur Einzelausstellung HOMESTORY im Brühler Kunstverein
Oktober/November 2015